Zweite Annual Assembly

18 Menschen aus sechs Ländern und drei Kontinenten verbringen eine Sommerwoche an der EH

Gemeinsam lernen, lehren, forschen und austauschen, darum ging es in der Woche im Juni mit Studierenden und Dozierenden aus Südafrika, Belgien, Indien, Polen, Uganda und den Philippinen – in Vorträgen und Workshops, bei Ausflügen und Exkursionen, beim Kochen, Tanzen und Spazierengehen. So entstehen und verfestigen sich Netzwerke über nationale und disziplinäre Grenzen hinweg.

Die „Annual Assembly“ – eine Internationale Woche – fand 2024 zum zweiten Mal in Ludwigsburg statt. Sie ist Teil eines vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) geförderten Projektes zur Internationalisierung von Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAWs). Das Projekt mit dem Titel „Transdisciplinary Intercultural International Partnership Project“, kurz TIIPP, fördert internationale und transdisziplinäre Lehrkooperationen und den interkulturellen Austausch zwischen Studierenden und Lehrenden an der EH Ludwigsburg.

Das Projekt fördert neben der Annual Assembly ein internationales Zertifikat für Studierende und Mitarbeitende, eine Forschungskooperation zwischen den beteiligten Hochschulen, den Aufbau eines Studierenden-Netzwerk und transkulturelle Online-Lehre.

Team-Teaching mit Joburg and Luburg!

Vier Kolleginnen und Kollegen aus Ludwigsburg und Johannesburg unterrichten gemeinsam an Freitagen und Samstagen Studierende in beiden Städten. Ambitioniert? Es war viel Vorbereitung, aber „wir wollen das wieder!“ Ganz im Sinne von Ubuntu, einer Philosophie, die am besten mit dem Satz zusammengefasst werden kann, „I am because you are“, also die wechselseitige Verbundenheit aller Menschen betont. „Das können wir von den Studierenden und Profs unserer Partneruni University of Johannesburg lernen“, sagt Prof. Ute Karl, die zusammen mit Prof. Björn Görder und den südafrikanischen Partnern Prof. Zibonele Zima und Prof. Adrian van Breda im Team lehrte.

Es geht um „Religion, Spiritualität und Sozialarbeit“.  Was interessiert Sie am gemeinsamen Unterrichten zu diesem Thema, wenn 9000 Kilometer Luftlinie zwischen Ihnen liegen?
Adrian van Breda: Wir haben große kulturelle und religiöse Unterschiede. Das Seminar bot die Möglichkeit, sich auf Themen einzulassen, die hier und dort verschiedene Bedeutungen haben. Zum Beispiel Religion. Religion und Spiritualität sind wichtig und werden in der Sozialarbeit oft vernachlässigt. Sogar bei uns! Wir Südafrikaner sind eine sehr religiöse und spirituelle Gesellschaft. Aber wir sprechen das im Unterricht nicht an. Warum denn nicht? Ich bin anglikanischer Priester und möchte darüber reden, welche Verbindung es zwischen meinen beiden Rollen in Kirche einerseits und Sozialarbeit andererseits gibt.

Ute Karl: Mich interessiert ebenso der Austausch über Perspektiven, theoretische Konzepte, unterschiedliche nationale und regionale Kontexte der Sozialen Arbeit, auch die Lernprozesse zwischen Kollegen und Studierenden, z.B., wie methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit unterschiedliche Formen von Spiritualität berücksichtigen kann. In meinem Leben und in meiner Forschung habe ich erfahren, dass Spiritualität für Handlungsfähigkeit wichtig sein kann, wenn es beispielsweise um Veränderungen geht. Selbst unter sehr schwierigen Umständen, z.B. auf der Flucht. Deshalb befasse ich mich mit der Bedeutung von Spiritualität in der Sozialarbeit und möchte das Thema auch in die Lehre integrieren.

Björn Görder: Als Student war ich ein Jahr in Südafrika. Das hat mich persönlich geprägt und meine wissenschaftliche Arbeit beeinflusst. Deshalb war ich sehr daran interessiert, neue Impulse zu erhalten, auch für unsere Studierenden.

Zibonele Zimba: Meine Großmutter praktizierte afrikanische Spiritualität. Ich bin bei ihr aufgewachsen, sie brachte mir vieles bei: Dankbarkeit. Gemeinsamkeit. Glauben. Ich möchte die beiden Welten, Sozialarbeit und afrikanische Spiritualität, zusammenbringen, weil das hilft, wenn Sozialarbeiter:innen mit Menschen aus verschiedenen Kulturen und Religionen zu tun haben.

Welche Erwartungen hatten Sie?
Von Breda: Das Seminar sollte dabei helfen, über die eigene Spiritualität und Religion nachzudenken, auch über die Religion von Kommiliton:innen, Kolleg:innen, Klient:innen und Gemeinschaften. Und es soll einen Überblick über die beiden Länder Deutschland und Südafrika geben, die in dieser Hinsicht sehr unterschiedlich sind. Wie können christliche Religion und afrikanische Spiritualität die Sozialarbeit bereichern? Darum geht´s.

Zimba: Dass die Studierenden ein grundlegendes Verständnis von afrikanischer Spiritualität entwickeln, ihre Bedeutung für das Leben von Menschen, die immer kulturell eingebunden sind. Und dass sie Antworten auf die Frage finden, wie wir als Sozialarbeiter:innen in der Praxis kulturelle Kompetenz zeigen.
Karl: Wir wollen unterschiedliche Perspektiven in ein Seminar holen – zum Beispiel religiös und nicht-religiös - damit die Studierenden die Vielfalt erfahren. Die multiplen digitalen Medien im Seminar haben einen guten Austausch ermöglicht.

Görder: Weil wir Wert auf Gruppenarbeit und Zeit für Selbstreflexion gelegt haben. Die Möglichkeit, Erfahrungen über Kontinente hinweg auszutauschen, war uns besonders wichtig.

Ein großes Thema war Ubuntu, eine in Südafrika praktizierte Lebensphilosophie. Das Wort kommt aus den Bantusprachen der Zulu und Xhosa und bedeutet Menschlichkeit, Nächstenliebe und Gemeinsinn. Es geht um eine Haltung, die sich auf Respekt und Anerkennung stützt und auf die Achtung der Menschenwürde…
van Breda: Ubuntu geht davon aus, dass wir mit anderen verbunden sind. Mit Lebenden, mit Gestorbenen, mit solchen, die noch nicht geboren sind, und auch mit der Erde selbst sind wir verwurzelt. Dieses Verständnis unterscheidet sich von westlichen Gesellschaften, die das Menschsein als etwas betrachten, das im Individuum verankert ist, getrennt von anderen. Aber unser Verständnis hat tiefgreifende Auswirkungen auf unser Pflichtgefühl gegenüber anderen.

Zimba: Ich stamme aus der Nguni-Ethnie, für uns ist Ubuntu das Bewusstsein, dass wir als Abantu, als Menschen, eine moralische Verantwortung gegenüber anderen haben.

Warum ist es so wichtig, dass sich Studierende der Sozialarbeit und Diakonie mit dieser Philosophie befassen?
van Breda: Damit sie lernen, nicht nur auf sich selbst zu schauen. Für Studierende der Sozialarbeit haben wir das Konzept der „Person in der Umwelt“, das besagt, dass wir eine Person nur verstehen können, wenn wir ihre Verbindungen zur Welt um sie herum berücksichtigen. Zu Gottes ersten schöpferischen Handlungen gehörte die Erschaffung eines Paares – nicht eines Individuums – was Gottes Fokus auf Beziehungen unterstreicht.

Karl: Für deutsche Studierende ist das besonders interessant. Es gibt auch Ansätze in der Sozialarbeit wie das feministische Konzept der Sorgearbeit (Care) bzw. der Ethics of Care, die die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen unterstreichen, sodass es interessant ist, auf Gemeinsamkeiten unterschiedlicher philosophischer Konzepte und gesellschaftlicher Kontexte zu schauen.

Görder: Was wir für „normal“ oder „vernünftig“ halten, ist immer von einem Weltbild abhängig. Das gilt auch für wissenschaftliche Theorien und professionelles Handeln. Wenn sich deutsche Studierende mit einem Konzept wie Ubuntu beschäftigen, denken sie auch über die Grundlagen ihres eigenen Denkens nach. Sie werden außerdem dafür sensibilisiert, dass nicht alle Menschen dieselben Grundannahmen haben. Das kann gerade für interkulturelle Begegnungen eine wichtige Erfahrung sein.

Was können Sie in einem bilateralen Seminar voneinander lernen?
Van Breda: Es ist eine einzigartige Gelegenheit, in kleinen Gruppen Erfahrungen über Religion, Spiritualität und Ubuntu auszutauschen mit Menschen aus einer anderen Kultur. Die deutschen Studierenden interessierten sich sehr für die afrikanische Spiritualität. Gerade auch im Kontext ihres Studiengangs Soziale Arbeit.

Zimba: Meine wichtigste Erkenntnis war, dass die Studierenden und wir in unseren religiösen und spirituellen Überzeugungen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede haben.  

Görder: Neugier. Echte Begegnung setzt voraus, dass ich mein Gegenüber verstehen will, nicht beurteilen oder überzeugen. Wo das gelingt, kann ich meinen Horizont erweitern und dann auch in einen kritischen Diskurs eintreten. Mich hat beeindruckt, wie gut die kollegiale Zusammenarbeit im digitalen Setting funktioniert hat. Und: In manchen Fragen gibt es größere Gemeinsamkeiten mit südafrikanischen Kollegen als mit deutschen. Unsere Identität wird von vielen Faktoren geprägt - Wohnort und kulturelle Zugehörigkeit sind sehr wichtig, aber nicht alles.

Karl: Genau. Und es war zwar viel Vorbereitung und Austausch vor dem Seminar notwendig, aber das hat sich gelohnt: Es war großartig.