Frau Eckstein, wie verlief Ihr Werdegang, eh Sie hier Ihre erste Professur angetreten haben?
Ich habe 20 Jahre leidenschaftlich gern als Krankenschwester gearbeitet, heute werden wir Pflegefachpersonen genannt. Die Unfallaufnahme im Klinikum Ludwigsburg war meine Lieblingsstation.
Ausgerechnet die Unfallstation?
Dort kann sehr vielen Menschen geholfen werden, oft mehr und wirkungsvoller als auf manch anderer Station. Und jeder Tag ist anders.
Wo noch sammelten Sie ähnliche Erfahrungen?
In verschiedenen Krankenhäusern, Universitäten und Hochschulen. Besonders eindrücklich war die Erfahrung, als Pflegewissenschaftlerin Teil eines interprofessionellen Teams am „Netzwerk Alternsforschung“ der Uni Heidelberg zu arbeiten. Wir haben Aspekte des Alterns aus ganz unterschiedlichen Perspektiven untersucht und miteinander verbunden: die biologische, medizinische, psychologische, soziologische und die pflegewissenschaftliche Sicht. Denn das Alter ist nicht zu beeinflussen, aber Altern schon. Pflege und Pflegewissenschaft haben einen gesellschaftlichen Auftrag. Wir helfen älteren Menschen, ihr Leben möglichst selbständig gestalten zu können.
Wie man immer wieder hört, stehen alte Menschen im Krankenhaus häufig unter Stress. Wie ist ihnen zu helfen?
Sie entwickeln oft eine akute Verwirrtheit, vor allem, wenn sie an Demenz leiden. Auch wenn sie sich zuhause noch selbst versorgen konnten, verlieren sie im Krankenhausaufenthalt häufig ihre Selbständigkeit. Man muss präventiv handeln und kompetent sein, um eine akute Verwirrtheit sofort zu erkennen. Schon deshalb sind verletzliche Gruppen wie Menschen mit Demenz oder Menschen mit Behinderung mein Herzensthema. Präventiv handeln heißt, sie individuell zu unterstützen. Zum Beispiel durch aktivierend-therapeutische Pflegekonzepte, die ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten erhalten oder sogar wieder zurück erlangen können. Dadurch kann oftmals erreicht werden, dass sie wieder nach Hause können und nicht in ein Pflegeheim entlassen werden.
Sie haben Ihren Bachelor in Pflegepädagogik und Ihren Master in Pflegewissenschaft gemacht. Wo setzen Sie Ihren Schwerpunkt? In Lehre oder Forschung?
Beide sind Herzensthemen. Ich lehre und leite gern an, der wissenschaftliche Aspekt kommt dazu. Glücklicherweise hatte ich in den letzten Jahren immer Tätigkeiten, in denen ich Lehre und Forschung gut miteinander verbinden konnte. Ich musste mich nie für einen Schwerpunkt entscheiden – und das ist auch gut so, weil mich beides erfüllt.
Reicht eine solide dreijährige Ausbildung nicht aus?
Natürlich sind das auch gute Pflegefachpersonen, viele arbeiten engagiert und kompetent in Krankenhäusern, Sozialstationen und Pflegeheimen. Sie leisten schier Unmögliches. Pflegende sollten ihr Tun und Lassen jedoch nicht nur aus Routine und Tradition ableiten, sondern bereit sein, Probleme zu analysieren, ihre Arbeit wissenschaftlich zu begründen und zu reflektieren. Ein Hochschulstudium bietet über die Ausbildung hinaus einen vollen Methodenkoffer, um besonders herausfordernde Pflegesituationen zu meistern. Sowohl Pflegefachpersonen als auch Patienten und Angehörige profitieren davon.
Im vergangenen Oktober hat der Bundestag einen Gesetzentwurf angenommen, der die Pflegeausbildung an Hochschulen stärken soll. Seit Januar wird das Gesetz umgesetzt. Dafür gibt es zwei Gründe: Die Zahl pflegebedürftiger Menschen steigt. Derzeit sind es fünf Millionen, in zehn Jahren werden es fast sieben Millionen sein. Zweitens werden die Anforderungen an den Pflegeberuf immer komplexer und anspruchsvoller. Aus diesem Grund hat der Wissenschaftsrat bereits 2012 empfohlen, dass 10 bis 20 Prozent der deutschen Pflegefachpersonen über einen Bachelor-Abschluss verfügen sollten.
Die so genannten ausbildungsintegrierten Studiengänge finden an drei Lernorten statt: Berufsfachschule, Hochschule und Praxis. 2020 wurde ein neues Pflegestudium eingeführt, ein primärqualifizierendes. Die theoretischen Inhalte werden jetzt nur noch hochschulisch gelehrt. Bisher gab es wenig Zulauf, weil Studierende ein Drittel ihrer Zeit in Krankenhaus, der Sozialstation oder im Altenheim arbeiteten, was aber nicht vergütet wurde. Seit Anfang dieses Jahres hat sich das geändert. Studierende in der Pflege erhalten nun für die gesamte Dauer ihres Studiums eine Vergütung.
Frau Eckstein, das neue Gesetz vergütet endlich die Arbeit der Studierenden in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Wie gestaltet sich jetzt ihr Studiengang?
Es ist es gut, dass die Politik endlich auf den Pflegenotstand reagiert hat. Davon wird die Region in den kommenden Jahren profitieren. Das primärqualifizierende Pflegestudium entspricht einem dualen Studium. Die Studierenden immatrikulieren sich bei uns an der Evangelischen Hochschule. Gleichzeitig schließen sie einen Ausbildungsvertrag mit einem Praxisträger, einem Krankenhaus oder einem Altenhilfeträger. Sie erwerben einen doppelten Abschluss, erlangen zunächst ihre Berufszulassung mit einem Pflegeexamen, damit sie in der Praxis tätig sein können. Das ist vergleichbar mit der Approbation bei Ärzt:innen. Diesen Berufsabschluss haben sie in der Regel nach sechs Semestern. Die Bachelorarbeit schreiben sie im siebten Semester. Der Pflegestudiengang an der Evangelischen Hochschule ist anspruchsvoll! Er bereitet die Studierenden schließlich auf akademisch qualifizierte Pflege vor.
Der Wissenschaftsrat der Bundesregierung empfiehlt eine Akademikerquote in der Pflege von zehn bis zwanzig Prozent. Wo stehen wir in Deutschland?
Gesamt gesehen bei etwa zweieinhalb Prozent, die meisten sind aber für das Management oder als Pflegepädagogen qualifiziert. Akademisch qualifizierte Personen, die in der direkten Pflege arbeiten, gibt es noch weniger, das bewegt sich sowohl im ambulanten als auch stationären Bereich grade mal bei 0,5 Prozent, wobei es in der stationären Langzeitpflege noch schlechter aussieht als in den Krankenhäusern. Auch deshalb wurde der neue Studiengang geschaffen. Man weiß aus internationalen Studien, dass sich die Versorgung verbessert und die Sterblichkeitsrate sinkt, wenn akademisch ausgebildete Pflegende das Team verstärken. Mit den Akademiker:innen kommt ein neuer, innovativer Spirit ins Team.
Gibt es Eifersüchteleien?
Ich sehe mich als Brückenbauerin. Ich bin selbst traditionell ausgebildet und habe später ein wissenschaftliches Studium absolviert. Das wünsche ich vielen. Denn es ist nicht abgehoben, sondern führt zu einer höheren Berufszufriedenheit und nachweislich zu besseren Patientenergebnissen. Erstmal müssen Berufsanfänger, ob mit oder ohne akademischem Abschluss, ohnehin berufliche Erfahrung sammeln. Sie profitieren auch zunächst von der Expertise ihrer traditionell ausgebildeten Kollegen. Später wiederum profitieren alle von den akademisierten Pflegefachpersonen, insbesondere bei komplexen Pflegesituationen. Und gerade die wird es immer mehr geben, weil die Menschen älter werden und gleichzeitig mehrere chronische Erkrankungen haben. Es ist nur konsequent, einen schon immer hochqualifizierten Beruf wie die Pflege in die Akademisierung zu überführen. Genau genommen hätte die Ausbildung schon längst, wie übrigens im restlichen Europa auch, an einer Hochschule verortet sein müssen.
Wie gefragt sind die Pflegestudiengänge in Deutschland?
Es läuft überall nur schleppend. Ich bin deshalb in großer Sorge, weil wir den internationalen Anschluss verpassen.
Woran liegt das? Inzwischen werden Pflegefachpersonen doch besser bezahlt.
Viele haben falsche Vorstellungen vom Beruf und glauben, dass es ein Assistenzberuf im Rahmen der medizinischen Diagnostik und Therapie ist. Aber darin erschöpfen sich nicht die Ansprüche an eine moderne Pflege und Versorgung. Wir steuern hochkomplexe Fälle und Versorgungskonstellationen. Wenn wir allein an mehrfacherkrankte und gebrechliche ältere Menschen denken, die zunehmend in schwierigen Familienkonstellationen stecken, regeln wir auch den Übergang vom Krankenhaus zurück nach Haus oder in eine Reha oder ein Heim. Außerdem stehen wir den Menschen nicht nur heilend zur Seite, sondern wir sorgen auch dafür, dass Krankheiten erst gar nicht entstehen oder dass sie erträglich sind. Wir machen es uns zur Aufgabe, dass Patienten einen schönen und sinnerfüllten Lebensabend haben. Und schließlich begleiten wir ihr Sterben in würdevoller Weise.
Heilkundeübertragungsrichtlinie
Hinter dem sperrigen Begriff verbirgt sich mehr Verantwortung für Pflegefachpersonen. Tätigkeiten, die bisher ausschließlich von Ärzt:innen verantwortet wurden, sollen ab 2025 von Pflegenden selbständig und eigenverantwortlich durchgeführt werden. Der Bereich erstreckt sich auf die Krankheitsbilder Demenz, Diabetes mellitus und chronische Wundversorgung. Sie werden in das neue primärqualifizierende Pflegestudium integriert. Darüber hinaus können auch nicht akademisch qualifizierte Pflegefachpersonen die Qualifikation erwerben. An der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg werden perspektivisch solche Möglichkeiten angeboten werden.
Claudia Eckstein verfasste ihre Dissertation mit dem Titel „Delir und Vulnerabilität“ am Netzwerk Alternsforschung (NAR) der Universität Heidelberg und forschte an der Universitätsmedizin Mannheim in der Geriatrie zum Thema Delir, ein plötzlich auftretender Zustand der Verwirrtheit. Ältere Menschen im Krankenhaus sind besonders gefährdet, die Gründe können Narkosen oder chirurgische Eingriffe sein, aber auch die ungewohnte Umgebung mit wechselnden Bezugspersonen. Claudia Eckstein hat ein Konzept entwickelt, um gefährdete Personen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Bevor sie an die EH kam, arbeitete sie zwei Jahre in Tübingen als Postdoktorandin. Claudia Eckstein ist verheiratet und lebt in Ludwigsburg.
Leiter des Studiengangs Pflege ist Manfred Schnabel, der zum Thema Demenz promoviert hat („Macht und Subjektivierung“, eine Diskursanalyse am Beispiel der Demenzdebatte) und seit 2016 an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg lehrt.
Claudia Eckstein und Manfred Schnabel bilden an der EH ein Team mit den beiden Professorinnen Simone Ries und Kirsten Brukamp sowie der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Ramona Bechthold.