Jens Müller verantwortet die Bereiche Lehre, Qualitätsmanagement und Nachhaltigkeit. Er möchte die Umsetzung der Sustainable Development Goals, die Ziele nachhaltiger Entwicklung der UN, in allen Studiengängen verankern.
Herr Müller, am 1. Februar dieses Jahres starteten Sie als zweiter Prorektor. Was interessiert Sie an dieser Aufgabe?
Ich habe in der Vergangenheit immer gute Erfahrungen mit solchen Verantwortungen gemacht. Schon in der Berufsschule war ich Schülersprecher, später engagierte ich mich in politischen Jugendverbänden, so ging es weiter. Ich mag es, Prozesse zu gestalten und voranzutreiben und habe zugleich große Freude und Respekt vor so einem Amt. Bei den Themen Lehre, Qualitätsmanagement und Nachhaltigkeit kann ich mich mit meiner Erfahrung einbringen. Wir sind im Wettbewerb mit anderen Hochschulen - auch mit Hochschulen mit großen Anteilen digitaler Lehre. Wir brauchen ein Profil als Präsenzhochschule mit digitalen Elementen - und als kirchliche Hochschule, die sich für Themen in der Gesellschaft verantwortlich fühlt und ihren Studierenden Kompetenzen vermittelt, die für die Gesellschaft wirksam sind.
Gehört dazu auch das Thema Nachhaltigkeit, das in diesem Kontext eine immer größere Rolle spielt?
Ja. Als Evangelische Hochschule geht es uns um die Bewahrung der Schöpfung, aber nicht nur. Wir müssen uns beim Thema Klimawandel aufstellen, den wir täglich miterleben, schließlich sind wir dafür als Bewohner*innen des sogenannten globalen Nordens hauptverantwortlich. Als Hochschule müssen wir Kompetenzen erlernbar machen, um nicht nur Teil des Problems, sondern auch Teil der Lösung zu sein. Die Umsetzung der Sustainable Development Goals, also der Ziele nachhaltiger Entwicklung der UN müssen in allen unseren Studiengängen verankert sein.
Wie soll das konkret in den Modulhandbüchern aussehen?
Zum Teil haben wir sie schon in unseren Studiengängen integriert: Schutz vor Gewalt und Armut, ein gesundes Aufwachsen in der Gesellschaft, Bildung. Zukünftig sollten Lehrende ihre Studierenden ermuntern, ihre Abschlussarbeiten und Forschungsprojekte in Themenfeldern der nachhaltigen Entwicklung zu erarbeiten. Oder wir schaffen ein zusätzliches Nachhaltigkeitsmodul für alle Studiengänge, für das es Creditpoints gibt. Dabei kann es um die drei Säulen der Nachhaltigkeit gehen, Ökonomie, Ökologie und Soziales. Das haben wir in unserem Hochschulentwicklungsplan für die kommenden vier Jahre festgelegt.
Fällt Ihnen dazu ein Studienobjekt ein, in dem ein kritischer Ansatz auf Anhieb sichtbar wird?
Quinoa, eine reisähnliche Pflanze, die schon seit 6000 Jahren in Lateinamerika angepflanzt wird, eiweißreich und gesund. Seit ein paar Jahren ist sie bei uns im globalen Norden in und gilt als Superfood. Aber die Menschen in Ecuador oder Peru können sie sich kaum noch leisten.
Gibt es noch andere Vorhaben beim Thema Nachhaltigkeit?
Wir wollen unsere Hochschule zertifizieren lassen, auch das ist im Hochschulentwicklungsplan festgehalten. Mit dem Umweltmanagementsystem „EMAS“, das uns verpflichtet, den Umweltschutz kontinuierlich zu verbessern, und mit dem „Grünen Gockel“, ein Siegel der Evangelische Landeskirche Württemberg. Das wird ein intensiver Prozess, aber er lohnt sich.
Was muss die Hochschule dafür tun?
Noch mehr Ressourcen schonen, auch intern. Das heißt z.B.: weniger Papier verbrauchen, mehr Müll trennen, Photovoltaik auf die Dächer. Wir haben dafür auch einen Antrag bei einer Stiftung gestellt, um Drittmittel für diese Vorhaben zu bekommen.
Frau Franke, Sie verantworten als Prorektorin den Bereich Forschung. Welche Ziele verfolgen Sie auf diesem Feld?
Wir wollen, dass Professor*innen bei uns an der EH gut forschen können, also müssen wir Anreize bieten und eine gute Infrastruktur schaffen, um unser Profil zu stärken und Forschende zu unterstützen. Zudem müssen wir den akademischen Nachwuchs fördern. Ich arbeite eng mit dem Institut für Angewandte Forschung (IAF) zusammen, das unsere Aktivitäten bündelt und koordiniert.
Also eine Art wissenschaftliche Heimat für Professorinnen und Professoren?
Gemeinsam, auch transdisziplinär, überlegen wir: Wo sind unsere Schwerpunkte? Wie kommen wir an Ausschreibungen, welche Anträge können wir für Fördergelder stellen, welche neuen Synergien könnten sich ergeben und vieles mehr. Aber es geht nicht nur um große Ausschreibungen, sondern auch kleine Projekte in der Region und unsere gesamte Transferstrategie. Dazu gehört auch die Weiterbildung. Wir möchten die Stärken unserer Hochschule bündeln und in die Gesellschaft transportieren.
An der EH geht es in erster Linie um angewandte Forschung. Können Sie ein Beispiel nennen?
Es geht im Gegensatz zur Grundlagenforschung um Fragen, wie Herausforderungen in der Praxis durch Forschung gelöst werden können. Ich habe beispielsweise ein Projekt geleitet, in dem es um Vereinbarkeit von Beruf und Pflege geht, wenn Pflegebedürftige und deren Angehörige weit entfernt voneinander wohnen. Etwa 5 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig im Sinne der Pflegeversicherung. Angehörige, die sich vor Ort kümmern könnten, gibt es aufgrund von Patchworkfamilien und Arbeitsmarktmobilität immer weniger. Dabei stellt sich die Frage, welche Herausforderungen sich in dieser Pflege auf Distanz als so genanntes „distance caregiving“ ergeben, welche Strategien Angehörige nutzen und wie Arbeitgeber ihre pflegenden Mitarbeitenden unterstützen können.
Wie sieht das konkret aus?
Unsere Partner im Projekt waren neben dem Daimlerkonzern das Versicherungsunternehmen Wüstenrot & Württembergische und regionale Träger aus der Gesundheitsversorgung, dazu gehören die Evangelische Diakonissenanstalt Stuttgart und die BruderhausDiakonie Reutlingen, außerdem Multiplikatoren wie das Kompetenzzentrum Beruf & Familie, eine Initiative des Sozialministeriums Baden-Württemberg. Wir haben Daten erhoben und Workshops im Bereich Personal entwickelt, durchgeführt und evaluiert.
Wie weckt man bei Lehrkräften und Studierenden Begeisterung fürs Forschen?
An der Hochschule verfolgen wir das Ziel des forschenden Lernens und Lehrens. Die Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis kann durch bestimmte Lehrformate geschlagen werden. Ein Beispiel: Wir arbeiten mit Partnern aus der Praxis zusammen, mit dem Verein „Frauen für Frauen“ in Ludwigsburg, der in Fragen sexualisierter und häuslicher Gewalt berät. Lehrende können Ansprechpersonen aus der Praxis einladen und unsere Studierenden können zu konkreten Fragen forschen und darüber sogar ihre Abschlussarbeit schreiben. Dabei entstehen oft neue Ideen. Davon profitieren Lehrende, Studierende und die Praxis.
In Baden-Württemberg wurde ein sogenannter Promotionsverband gegründet. Ist die Evangelische Hochschule Ludwigsburg daran beteiligt?
Wir sind Mitglied in diesem Verband und sechs Kolleg*innen sind als Mitglieder im Promotionszentrum promotionsberechtigt. Das ist für uns eine wichtige Möglichkeit, wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern. Vorher war es so, dass sich unsere Doktorand*innen an einer promotionsberechtigen Hochschule immatrikulieren mussten, wir konnten dann je nach Promotionsordnung die Zweitbetreuung übernehmen oder Kolleg*innen mussten von der anderen Hochschule kooptiert werden.
Ist es denn schwierig, Professuren an der Hochschule zu besetzen?
Es ist eine Herausforderung, aber das Problem haben nicht nur wir. Zum einen erleben wir demografiebedingt, dass die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen und nicht genügend Menschen nachrücken. Gerade bei den Studiengängen Soziale Arbeit, Gesundheit, Pflege, Erziehung und Bildung, also in Fächern mit einer jüngeren Geschichte der Akademisierung.
Gleichzeitig haben Hochschulen, die Professuren ausschreiben, oftmals zu wenige Bewerber*innen, die die formalen Voraussetzungen erfüllen. Denen also beispielsweise die drei Jahre Berufspraxis außerhalb der Hochschule fehlen oder wissenschaftliche Qualifikationen, wie Publikationen, Vorträge oder Lehrerfahrung. Diese Lücke wollen wir schließen mit der Förderung des Bund-Länder-Programms FH Personal und unserem Projekt an der Hochschule E(H)Laboriert. Wir profilieren die EH Ludwigsburg als Arbeitsort für berufbaren professoralen Nachwuchs und machen sie sichtbar.
Ihr dritter Themenbereich heißt „Internationalisierung“. Was ist darunter zu verstehen?
Wir haben mehr als 40 Hochschulpartnerschaften in unterschiedlichen Ländern, von England über Belgien bis Peru, Indien und auf die Philippinen. Mit der belgischen Hochschule VIVES besteht ein „Double Degree Programm“ für den Bachelor Internationale Soziale Arbeit. Hinzu kommen Kooperationen mit Praxiseinrichtungen im Ausland. Das ist für eine Hochschule unserer Größe beachtlich. Wir haben Studierende und Dozierende, die ins Ausland gehen oder von dort zu uns kommen. Internationalisierung abroad und at home ist eine Strategie der Hochschule und in vielen Bereichen auch Teil unserer Curricula. Wir bieten englischsprachige Lehrveranstaltungen an, arbeiten transdisziplinär und können Themen aus kulturell verschiedenen Perspektiven betrachten wie das Thema Klimawandel oder Menschenrechte.
…das bedeutet?
Wir möchten mit unseren internationalen Partnerschaften Studierende befähigen, sich für Menschenrechte, Frieden, Nachhaltigkeit, Diversität und Gleichberechtigung einzusetzen. Viele globale Herausforderungen machen nicht an Staatsgrenzen halt und brauchen darum Lösungen, die partnerschaftlich und kultursensibel entwickelt werden. Ein aktuelles Projekt bei uns ist das TIIPP - Transcultural Interdisciplinary International Partnership Project, gefördert vom Deutsch Akademischen Austauschdienst, dem DAAD. Gemeinsam mit sechs Partnerhochschulen aus Belgien, Polen, Uganda, Indien, Südafrika und den Philippinen bauen wir ein Forschungsnetzwerk auf und entwickeln online-basierte Lehrveranstaltungen.
Um welche Studiengänge geht es dabei?
Um alle! Um Internationale Soziale Arbeit, aber auch um die Studiengänge Inklusive Pädagogik/Heilpädagogik, Religions- und Gemeindepädagogik und andere. Solche transdisziplinären und internationalen Perspektiven braucht es bei den globalen Herausforderungen, die sich uns stellen. Was bedeutet der Klimawandel für uns und was bedeutet er auf den Philippinen? Was bedeutet Familienpolitik, Diversität oder Inklusion bei uns und was in Uganda? Auch postkoloniale Sichtweisen werden zunehmend wichtig. Es ist für Studierende und uns alle wichtig, über den Tellerrand zu schauen. Sie werden später immer mit Menschen zusammenarbeiten, die von anderen Kulturen geprägt sind.
Das alles klingt nach großen Aufgaben für Sie beide. Gelingt es Ihnen noch, am Wochenende abzuschalten?
Annette Franke: Ich gehe gerne wandern und laufe regelmäßig. Hauptsache Natur und draußen sein.
Jens Müller: Ich jogge, meditiere und habe ein Ehrenamt: Ich telefoniere bei der „Nummer gegen Kummer“ mit Eltern, Großeltern und Angehörigen von Kindern.
Um welche Probleme geht es da?
Stress mit Kindern oder Eltern, Mobbing, Essstörungen, Angst, alles, was man sich denken kann. Die Anrufer bleiben anonym, die Beratung ist kostenlos.
Haben Sie ein Vorhaben für 2024?
Franke: Ich würde gerne die Themen Nachhaltigkeit und Gesundheit ausbauen. Privat fange ich vielleicht dieses Jahr wieder mit Tennisspielen an, das hab´ ich mit 16 Jahren aufgegeben. Und ich bitte meinen achtjährigen Sohn, mir Gitarre spielen beizubringen.
Müller: Mein großes Ziel ist es, ins Prorektorat hineinzuwachsen. Und das zweite, ein Buch von Hannah Arendt endlich zu Ende zu lesen, „Eichmann in Jerusalem“. Sie schildert darin den Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer, der die millionenfache Ermordung von Juden organisierte.